Ich bin ein Berliner(1). Ich weiss, diesen Satz haben schon ganz andere vor mir gesagt. Aber ich bin tatsächlich einer. Kugelrund, frisch gepudert und an den Seiten mit einem feinen Schimmer von Frittieröl überzogen. Na, frisch gepudert stimmt vielleicht nicht ganz, denn das mit der Backstube ist schon einige Tage her. Raus aus dem brutzelnden Fett, rein in den Zucker, rauf aufs Tablett und ab in den Laden. Alles lief genau so, wie es sollte. Und dann kam ein Berliner (2)! Ich wusste gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Ein richtiger Berliner mit Armen und Beinen, aber ohne Konfitüre. Ausserdem war er ein Kannibale. Der wollte mich kaufen und essen! «Kiek mal, Marie! Det jibs ja nich!»(3), freute er sich. Marie war seine Frau, offenbar auch eine Berlinerin. Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt, dass es auch weibliche Berliner gibt. «Kiek mal», sagte er also und zeigte auf mich. «Een Berliner! Den nehmer der Kleenen mit nach Hause!»(4) Ich wunderte mich noch, warum die beiden so seltsam redeten, und schwupps, schon sass ich in der Falle, genauer in der Tüte. Einerseits war ich gespannt zu erfahren, wo die beiden hin wollten, andererseits machte ich mir auch nichts vor, ich sollte aufgegessen werden, das war meine Bestimmung.
Von der ganzen Reise bekam ich nicht allzu viel mit. Die Frau jammerte ständig: «Dat rüttelt aber jehörich»(5), oder: «Mir is schon janz koddrich!»(6) Und auch mein Konfitüren-Bäuchlein wurde kräftig durchgeschüttelt, bis es ganz grün wurde. Das gab mir Gelegenheit, über mein bisheriges kurzes Leben nachzudenken, und ich kam zum Schluss, dass es da überhaupt nichts zum drüber Nachdenken gab. Wenn man mal davon absieht, dass ich ein Bad in einer kochenden Fritteuse genossen hatte – eine Erfahrung, die nicht jeder kennt –, hatte ich noch rein gar nichts erlebt. Und jetzt? Nachtijall, ick hör dir trapsen, (7) dachte ich, das hatte die Frau vor dem Einsteigen auch gesagt. Ich wusste, was meine nächste Station war: Ich würde in einem Bauch landen! Fritteuse, Puderzucker, Laden, Tüte, Bauch – das soll alles gewesen sein? Ausgerechnet jetzt, wo ich nach Berlin flog? «Nee», sagte ich, «nicht mit mir!», und begann zu überlegen, wie ich mich aus dieser Misere, sprich Tüte, befreien sollte. «Das Wichtigste an einem Fluchtplan», sagte ich mir, «ist der richtige Zeitpunkt!» Ich beschloss also, auf den richtigen Zeitpunkt zur warten. Zugegeben, ich hatte auch überhaupt keine Idee, was ich sonst machen sollte. Mein zuckersüsses Konfitürenhirn war nicht für die Lösung solcher Probleme gedacht.
Nach einer mir endlos scheinenden Zeit landeten wir endlich. «Willkommen in Berlin!», klang es aus dem Lautsprecher, und ich fühlte mich ein bisschen wie damals, als ich in der Fritteuse gelandet war, es wurde mir ganz warm ums Herz. So war das also, wenn man nach Hause kam? Und schon wurde ich wieder durchgeschüttelt. Hörte das denn nie auf? Wir stiegen in ein Taxi. «Ach, bin ick knülle»(8), jammerte die Frau und liess meine Tüte neben sich auf den Sitz plumpsen. Diese Berliner waren ziemlich unfreundlich, fand ich. Aber immer noch hatte ich keine Idee, wie ich abhauen sollte.
Und plötzlich passierte es. Das Taxi stoppte, der Berliner und die Berlinerin stiegen aus, das Taxi fuhr wieder los – und ich lag immer noch auf dem Rücksitz! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Die ersten paar Meter zur Freiheit waren geschafft. Ich rollte aus der Papiertüte, wagte einen Blick durchs Fenster – und staunte! Grün, überall grün, Bäume, Rasen und wieder Bäume! Dabei war Berlin doch eine Stadt, eine Grossstadt sogar, mit 3,45 Millionen Berlinern – ich fragte mich, wie viel das, in Konfitüre gemessen, sein mochte.
Nur, wo blieben die Häuser? All diese Berliner mussten doch irgendwo wohnen? Dann endlich sah ich eines. Riesig war es, vorne ein Säulen-aufgang, davor eine Menschenschlange und oben auf dem Dach eine gigantische Kuppel, so eine Art Berliner aus Glas, bloss ohne Konfitüre(9). Da musste bestimmt der Chefberliner zu finden sein. Aber zu dem wollte ich nicht. Ich fuhr weiter. Die Gegend wurde etwas bebauter, aber Bäume gab’s immer noch überall. Ausserdem einen breiten Fluss mit Booten drauf und am Ufer reihenweise Liegestühle(10). Dieses Berlin fing an, mir zu gefallen. Doch gerade als ich mir vorstellte, wie ich in einem dieser Liegestühle dösen würde, den braunen Bauch von Sonnenstrahlen gekitzelt, neben mir ein kühles Berliner Kindl(11) und eine heisse Berlinerin, da fiel mein Blick auf etwas ganz Entsetzliches! Ich konnte nicht glauben, was ich sah, die ganze Berliner Idylle in einer Hundertstelsekunde in der Luft zerstochen. Ein perfekt runder Berliner aus Metall und Glas – diese Berliner schienen eine Vorliebe für Glasberliner zu haben – hing hoch oben in der Luft, aufgespiesst auf einer Betonnadel.(12) Am oberen Ende konnte man sogar noch die roten Spuren der Konfitüre erkennen, schön regelmässig gestreift, als hätten sie das mit Absicht getan. Nur weg hier, dachte ich!
Viel anderes blieb mir auch nicht übrig, ich sass immer noch in diesem Taxi fest. Wir fuhren eine breite Allee entlang, schnurgerade, endlos. Ein Schild flitzte vorbei: Karl-Marx-Allee! Wer auch immer dieser Karl Marx gewesen war, er musste steinreich gewesen sein, die ganze Strasse war gesäumt von monumentalen Bauwerken. Auch dem Taxifahrer schienen sie aufzufallen, jedenfalls murmelte er «Dieser lächerliche Zuckerbäckerstil »,(13) oder so ähnlich und schüttelte den Kopf. Ich wurde hellhörig: Zuckerbäcker! Hier musste es Menschen geben, die einem kleinen Berliner bestimmt wohlgesinnt waren. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich rausrollen. Die Gelegenheit kam schneller als erwartet: Die Bremsen quietschten, die Türe wurde aufgerissen und ich rollte nach draussen, bevor sich eine Gruppe junger Leute auf mich setzen konnte. Die Landung war sanft, ich bin ja gut gepolstert. Aber dann wurde es holprig. Der Gehsteig war ziemlich uneben, und ich schaute besser genau hin, wenn ich weiterrollte. Ausserdem musste ich den Fussgängern ausweichen. Gerade kamen vier auf mich zu. Ich hüpfte in ein Blumenbeet. Seltsam, diese Berliner, die redeten genau so wie zu Hause. «Wo wemmär hüt go ässe? Wemmär wieder is Waterlily (14)?» Ich hatte keine Ahnung, was dieses Waterlily sein sollte, aber die bekannte Sprache flösste mir Vertrauen ein, und ich beschloss, ihnen zu folgen. Diese Vier waren bestimmt keine Berliner-Aufspiesser, dachte ich, wohl eher Berlin-Geniesser. Also rollte ich hinterher.
Plötzlich hörte ich eine Stimme: «He du da, du rollender Pfannkuchen!» Ich drehte mich vorsichtig um, tatsächlich schien ich damit gemeint zu sein, doch auf den ersten Blick konnte ich niemanden entdecken. «Hier bin ick, uff de Bank!» Ich blickte nach oben. Jetzt sah ich es. Dieses Ding. Eine Art schrumpliger Ring, mit einem glasigen Zuckerguss darüber. «Bist du ein Berliner Berliner?», fragte ich und hüpfte zu ihm auf die Bank. Das Ding schaute mich etwas verwundert an und meinte: «Aber klar bin ick Berliner! Een echtes frisches leckeres Berliner Jebäck!(15) Dit sieht man doch. Und du? Wat bist denn du? Siehst ja schnieke(16) aus mit deenem Pudermäntelchen.» Ich stellte mich auf einen längeren Erklärungsversuch ein. Der «Ring» hörte aufmerksam zu, zuerst ein wenig ungläubig und dann regelrecht bewundernd. Als ich fertig war, meinte er zu mir: «Fühle mich sehr jebumfidelt(17). Spritzkuchen(18) is meen Name.» Er machte eine Drehung um sich selbst, so dass ich ihn genauer betrachten konnte. Ich musste gestehen, mein erster Eindruck war falsch gewesen. Er war alles andere als zerknittert, seine Furchen zogen sich vielmehr in wunderbarer Regelmässigkeit über seinen Rücken. Ich wurde fast ein bisschen neidisch. Und sein weisser Zuckerguss verlieh im einen Hauch von Eleganz.
«Kennste Barcomis (19)?», wollte er wissen. Ich verstand rein gar nichts und schüttelte mich sicherheitshalber mal. «Das ist das absolut beste Café in ganz Berlin», erklärte er mir, und sein Zuckerguss begann zu glänzen. «Die haben sogar eine eigene Rösterei, richtigen Kaffee servieren die da, nicht bloss solches Muckefuck(20)-Zeugs. Da müssen wir unbedingt hin!» Ich war einverstanden, denn die vier Schweizer und ihr Waterlily hatten sich zwischenzeitlich ohnehin in Luft aufgelöst. Wir liessen uns von der Bank fallen und rollten los. Der Spritzkuchen wollte wissen, was ich von Berlin schon gesehen hatte. Das war schnell erzählt. Er knuffte mich in die Seite: «Du wirst staunen, wat et hier noch zu entdecken jibt. Die Zeit reicht nie für allet, da könntest du vier Wochen bleeben und hättest am Schluss doch det Jefühl, et seei viel zu kurz jewesen!» Er blinzelte mir zu: «Weesste, Berlin macht süchtig!»